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Ragna Schirmer
Zwischen Feinschliff, Schattierungskunst und glanzvoller Wiederbelebung pianistischer Kostbarkeiten
Wer mit Bachs »Goldberg-Variationen« sein Schallplattendebüt gibt, verfügt angesichts der Fülle konkurrierender Aufnahmen über ein gesundes Selbstbewusstsein. Die deutsche Pianistin, die bereits als 15-jährige jüngste Finalistin des Busoni-Wettbewerbs in Bozen wurde, ging auf volles Risiko – und das mit Erfolg. Die zweifache Bach-Preisträgerin brachte mit ihrer klangvollen, in den Tempi eher ruhig verhaltenen, in den Details ungemein dezidierten Lesart des berühmten, alle Kräfte fordernden Zyklus‘ die Fachkritik wie jeden Klavierliebhaber zum Staunen. Es war das Bach-Jahr 2000, das eine Künstlerin freiließ, die nicht nur die Strukturen der Musik nachzeichnet, sondern immer auch deren emotionalen Zustände und Prozesse offenlegt.
Ragna Schirmer bevorzugt in ihren Aufnahmen einen vollen Klang und eine weite, dabei nuanciert eingesetzte Dynamik. Eine »gewaltige manuelle und gestalterische Begabung« sprach ihr Peter Cossé angesichts ihrer Einspielung von Chopins Etüden op. 10 zu, die sie nicht in der Tradition brillanter »Übungsstücke« interpretiert, sondern in einem eher gesanglichen Ansatz zu Charakterstücken formt. Sie erweist sich darin nicht als Verfechterin kaltblütiger Pianistik, vielmehr als eine Poetin der Etüde. Ihr Spiel berührt nicht nur hier durch Form-Klugheit, Schattierungskunst, Ausdrucksstärke und Eleganz. Dass Ragna Schirmer stets von einem stark ausgeprägten musikalischen Charakterisierungswillen geleitet wird, zeigen nahezu alle ihre Einspielungen wie öffentlichen Auftritte, die sich eben nicht um das konventionelle Repertoire bemühen, sondern auch dem Entlegenem, scheinbar Übersehenem oder gar Missverstandenem neues Gehör verschaffen.
Im September 2019 steht Clara Schumanns 200. Geburtstag an. Ragna Schirmer arbeitet schon seit Jahren intensiv darauf hin, die Bedeutung dieser Ausnahmekünstlerin ins rechte Licht zu rücken. Als ernstzunehmende Komponistin hatte Clara zu ihrer Zeit keinen leichten Stand; der Druck der Männerwelt – auch der ihres Mannes Robert – war einfach zu groß. Als Konzertpianistin hingegen konnte ihr kaum einer – und dies von Anfang an – das Wasser reichen. Ragna Schirmer durchforstete in akribischer »Handarbeit« die Archive, zog die vergilbten Programmzettel von Claras Konzerten wieder ans Tageslicht und befand für sich: das will ich ganz genauso meinem Publikum wieder präsentieren – als musikalische Retrospektive in eine für uns heute vergangene Aufführungspraxis. Könnte das zu einem Problem werden? Die Pianistin will auf ihren Konzertreisen alles daran setzen, dies gründlich zu widerlegen. Einen fulminanten Vorgeschmack bietet ihre kürzlich erschienene CD mit Clara Schumanns »As-Moll-Klavierkonzert op. 7« sowie Beethovens »Viertem Klavierkonzert G-Dur op. 58«, für welches jene legendäre Konzert-Komponistin, selbstbewusst wie sie war, zwei ungewöhnliche, ganz dem romantisch-virtuosen Stil verpflichtete Kadenzen für den ersten und dritten Satz schrieb.
Ragna Schirmer geht es neben dem reinen Klavierspiel immer auch um eine Sinn stiftende Dramaturgie. In ihrer künstlerischen Entwicklung dokumentiert sich eine ausgeprägte Persönlichkeit mit immenser Gestaltungskraft. Beliebigkeiten sind ihr ein Gräuel. Sie versteht »ihre Musik« immer auch als Botschaft über den reinen Gegenstand hinaus, als ein Heraustreten aus dem bloßen Verharren am Instrument wie in der Interpretation als solcher und sonst nichts weiter … Ragna Schirmers programmatischer Ehrgeiz, der sich darüber hinaus auch in publikumswirksamen Moderationen niederschlägt, lässt jeden Konzertabend zu einem außergewöhnlichen Erlebnis werden. Ihre Präsenz, ihre Redegewandtheit ermöglichen es, dass sie sich auch in anderen Genres bewegt, wie in der für sie geschriebenen halb-szenischen Inszenierung »Blendwerk« mit Christian Brückner (das beim Musikfest 2016 zu erleben war) oder in dem »Konzert für eine taube Seele« gemeinsam mit dem Puppentheater Halle. Ihr pianistisches Handwerk hat sie bei der Klavierlegende Karl-Heinz Kämmerling in Hannover und Bernard Ringeissen in Paris erworben. Heute engagiert sie sich selbst als Pädagogin: nachdem sie bereits als 28-jährige auf eine Professur an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Mannheim berufen worden war, unterrichtet sie seit 2009 begabte junge Pianisten am Musikzweig der »Latina August Hermann Francke« in Halle. Die Stadt an der Saale ist ihre Heimat geworden. Dort »traf« sie auf den phänomenalen Georg Friedrich Händel. Das Ergebnis sind herausragende Dokumente; unter anderem dessen komplett eingespielte 16 Klaviersuiten, die ihr 2009 den zweiten ECHO-Klassik einbrachten.
(Karl Gabriel von Karais)
(Foto: Maike Helbig)
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