Musikfest Kassel 2016

  Ragna Schirmer – Artist in Residence

 


 

R a g n a  S c h i r m e r
Zwischen Feinschliff und Schattierungskunst

Wer mit Bachs »Goldberg-Variationen« sein Schallplattendebüt gibt, verfügt angesichts der Fülle konkurrierender Aufnahmen über ein gesundes Selbstbewusstsein. Die deutsche Pianistin, die bereits als 15-jährige jüngste Finalistin des Busoni-Wettbewerbs in Bozen wurde, ging auf volles Risiko – und das mit Erfolg. Die zweifache Bach-Preisträgerin brachte mit ihrer klangvollen, in den Tempi eher ruhig verhaltenen, in den Details ungemein dezidierten Lesart des berühmten, alle Kräfte fordernden Zyklus‘ die Fachkritik wie jeden Klavierliebhaber zum Staunen.

Es war das Bach-Jahr 2000, das eine Künstlerin freiließ, die nicht nur die Strukturen der Musik nachzeichnet, sondern immer auch deren emotionalen Zustände und Prozesse offenlegt. Ragna Schirmer bevorzugt in ihren Aufnahmen einen vollen Klang und eine weite, dabei nuanciert eingesetzte Dynamik. Eine „gewaltige manuelle und gestalterische Begabung“ sprach ihr Peter Cossé angesichts ihrer Einspielung von Chopins Etüden op. 10 zu, die sie nicht in der Tradition brillanter „Übungsstücke“ interpretiert, sondern in einem eher kantablen Ansatz zu Charakterstücken formt. Sie erweist sich darin nicht als Verfechterin kaltblütiger Pianistik, vielmehr als eine „Poetin“ der Etüde. Ihr Spiel berührt nicht nur hier durch Form-Klugheit, Schattierungskunst, Ausdrucksstärke und Eleganz. Dass Ragna Schirmer stets von einem stark ausgeprägten musikalischen Charakterisierungswillen geleitet wird, zeigen nahezu alle ihre Einspielungen wie öffentlichen Auftritte, die sich eben nicht um das konventionelle Repertoire „bemühen“, sondern auch dem Entlegenem, scheinbar Übersehenem oder gar Missverstandenem neues Gehör verschaffen: Musikalische Entdeckungsreisen zu Franz Schmidt („Concertante Variationen über ein Thema von Beethoven“) in Gegenüberstellung zum „6.ten Klavierkonzert“ D-Dur von Ludwig van Beethoven (nach dessen Violinkonzert op. 61); oder die „Années de pèlerinage“ von Franz Liszt gespiegelt an Madrigalen von Gesualdo und Marenzio.

Zu solch einer Pilgerreise (Pèlerinage) war sie selbst aufgebrochen – auf den Spuren Liszts zu jenen Orten, die diesen in der Schweiz und in Italien zu seinen Stücken inspiriert haben. Das Booklet der „Pèlerinage“ spricht Bände davon in Form von Notizen, Literaturzitaten, Lexikon-Artikeln, persönlichen Fotos.

Der Pianistin geht es neben dem reinen Klavierspiel immer auch um eine Sinn stiftende Dramaturgie. In ihrer künstlerischen Entwicklung dokumentiert sich eine ausgeprägte Persönlichkeit mit immenser Gestaltungskraft. Beliebigkeiten sind ihr ein Gräuel. Sie versteht „ihre Musik“ immer auch als Botschaft über den reinen Gegenstand hinaus, als ein Heraustreten aus dem bloßen Verharren am Instrument wie in der Interpretation als solcher und sonst nichts weiter… Ragna Schirmers programmatischer Ehrgeiz, der sich darüber hinaus auch in publikumswirksamen Moderationen niederschlägt, lässt jeden Konzertabend zu einem außergewöhnlichen Erlebnis werden.

Ihre Präsenz, ihre Redegewandtheit lassen es zu, dass sie sich auch in anderen Genres bewegt, wie in der für sie geschriebenen Theaterinszenierung »Blendwerk« mit Christian Brückner oder in dem »Konzert für eine taube Seele« mit dem Puppentheater Halle
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Ihr pianistisches Handwerk hat sie bei der Klavierlegende Karl-Heinz Kämmerling in Hannover und Bernard Ringeissen in Paris erworben. Heute engagiert sie sich selbst als Pädagogin: nachdem sie bereits als 28-jährige auf eine Professur an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Mannheim berufen worden war, unterrichtet sie seit 2009 begabte junge Pianistinnen und Pianisten am Musikzweig der „Latina August Hermann Francke“ in Halle. Die Stadt an der Saale ist ihre Heimat geworden. Dort „traf“ sie auf den phänomenalen Georg Friedrich Händel. Das Ergebnis sind herausragende Dokumente: dessen komplett eingespielte 16 Klaviersuiten, welche ihr 2009 den zweiten ECHO-Klassik einbrachte. Und den ihr 2012 verliehenen Händel-Preis der Stadt Halle „beschenkte“ sie im Gegenzug mit all seinen Orgelkonzerten, jeweils speziell eingerichtet für Hammerflügel (fortepiano, Nachbau Wien 1795), Steinway D und Hammond-Orgel (Hammond B3). „Händel geht direkt ans Herz“ sagt Ragna Schirmer. „Mein Anspruch: Der Hörer soll am Ende das Gefühl haben, dass er das Werk erfahren hat, und nicht die Pianistin. Mein Credo: Unglaubliche Detailversessenheit und Perfektionsverliebtheit in der Nuance, die am Ende aber vielleicht nur unterbewusst wahrgenommen wird“.

Karl Gabriel von Karais



Foto: © Robert Dämmig
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